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pyramidale 3 – musik mathematik der gefühle

PYRAMIDALE 3 – musik mathematik der gefühle

musik / fiktive dialoge / video / notation

Ausstellungszentrum Pyramide
Berlin-Hellersdorf
Riesaer Straße 94
12627 Berlin

Sonnabend, 23. Oktober 2004
Beginn 18.00 Uhr

An der Peripherie des Berliner Stadtbezirks Marzahn-Hellersdorf, der mit fast einer Viertelmillion Einwohner größten Plattenbausiedlung Europas, befindet sich das Ausstellungszentrum Pyramide. Hier hat sich in den letzten Jahren eine interdisziplinäre Veranstaltung, die PYRAMIDALE, etabliert: zu einem übergreifenden Thema kommuniziert zeitgenössische Musik mit anderen Kunstgenres und mit dem Publikum. Musik – Mathematik der Gefühle? Die scheinbar paradoxe Metapher wird zum Anlass genommen, dem Verhältnis von Rationalität und Emotion nachzuspüren – in Notation, Reflexion und klingendem Ereignis. Neben Klassikern der Moderne (Bartok, Scelsi, Xenakis) stehen ausschließlich Uraufführungen auf dem Programm.

PROGRAMM

Susanne Stelzenbach und Ralf Hoyer

ZeitZeichen
für 21 Instrumentalisten und 7 CD-Player

Dialog 1

short emotions I
für Streichquartett plus Saxophonquartett von:

Johannes K. Hildebrandt
Michael Hirsch
Ellen Hünigen
Herrmann Keller
Max E. Keller
Juliane Klein

Dialog 2

short emotions II

Ulrich Krieger
Sybille Pomorin
Kurt Dietmar Richter
Rainer Rubbert
Lothar Voigtländer
Helmut Zapf
Walter Zimmermann

– – –

Dialog 3

Bela Bartok
6. Streichquartett

Giacinto Scelsi
Aitsi – pour piano amplifie

Iannis Xenakis
XAS – für Saxophonquartett

– – –

Mitwirkende:

7 Solisten und 14 Schüler verschiedener Berliner Musikschulen

ATON – Saxophonquartett:
Martin Losert, Sopransaxophon
Ruth Velten, Altsaxophon
Christian Vogel, Tenorsaxophon
Alexander Darashkevich, Baritonsaxophon

Wangerin – Quartett:
Holger Wangerin, Violine I
Yulia Freidin, Violine II
Zhuo Lu, Viola
Sebastian Hartung, Cello

ensemble p i a n o p l u s:
Susanne Stelzenbach, Klavier
Ralf Hoyer, Live-Elektronik

Karl Kolb, Ella Zickerick (Darsteller)
Andrea Tralles, Myriam Hoyer (Darsteller / Regie)

Max E. Keller, Moderation

Materiell betrachtet ist Musik reine Mathematik – berechenbare Luftschwingungen, deren Frequenzen sich nach physikalischen Regeln überlagern. Doch für die Wirkung der Musik ist diese Tatsache unbedeutend. Anders als Malerei, Poesie oder Bildhauerei stellt Musik die Welt nicht dar. Ein Akkord bedeutet nichts konkretes, eine Melodie hat keinen eigentlichen Sinn und dennoch berührt Musik direkt, erzeugt Emotionen: Lachen, Weinen, Gänsehaut, Herzklopfen, Aggressionen, ein Kloßgefühl in der Kehle… Worin besteht der merkwürdige Zusammenhang zwischen Zahlen und Klängen? Wo liegen die Momente, in denen ein Konstrukt zu leben beginnt?

Das Projekt ZeitZeichen für 14 Instrumentalschüler und 7 Profimusiker versucht, das gemeinsame Musizieren von Meister und Schüler auf die Dimensionen eines Kammerorchesters zu übertragen, als ein Stück Neue Musik, als eine Entdeckungsreise, die alle Beteiligten auch für neue Aufführungsformen sensibilisieren soll. Die Komposition ist so angelegt, dass das Publikum die Entstehung eines Klanggebildes von innen heraus erleben kann. Die Aufstellung der Musiker folgt der Architektur des Ausstellungszentrum Pyramide, so dass es möglich ist, dieses Gebäude ganz mit Klang zu füllen. In den short emotions – eigens für die Pyramidale 3 entstandene Kompositionen von 2-5 Minuten Dauer für Streichquartett + Saxophonquartett – setzen sich 12 Komponisten mit zum Teil sehr unterschiedlichen Handschriften auf ihre Weise mit dem Thema Ausdruck und Konstruktion auseinander. Titel wie Kalkül und Emotion, 37a oder Splitter vom Blues des weißen Mannes zeigen die verschiedenen Ansätze in der Ausformung dieser Vorgabe ebenso wie die Notation der Stücke. Dazwischen gesetzte fiktive Dialoge ergänzen aus einer anderen Blickrichtung diesen Dualismus und eröffnen einen Reflexionsraum besonderer Art. Die Auswahl der Texte geht auf den im vergangenen Jahr in Göttingen verstorbenen Naturwissenschaftler Friedrich Cramer zurück, der in seinem Buch Chaos und Ordnung – über die komplexe Struktur des Lebendigen jedes wissenschaftliche Kapitel mit einem fiktiven Dialog begann und mit einem Gedicht abschloss. Die in einer dritten Sektion erklingenden Werke der klassischen Moderne belegen den Dualismus von Ausdruck und Konstruktion auf exemplarische Weise: Das 6.Streichquartett von Bartok erhält seine formale Klarheit durch eine unerhörte Verfeinerung klassischer Verarbeitungstechniken. Auffällig ist das vor jeden der Sätze gestellte, mit mesto (traurig) bezeichnete Thema, was die Umstände seiner Entstehung kennzeichnet: Bela Bartok komponierte sein sechstes und letztes Streichquartett 1939 in in der Schweiz – die sich ankündigende europäische Katastrophe vorausahnend – kurz vor seiner Emigration nach Amerika. AITSI von Giacinto Scelsi besteht aus 43 in unterschiedlicher Stärke angeschlagenen liegenden Einzeltönen oder Akkorden von 2 – 19 Sekunden Dauer, deren Beginn zumeist mit einem starken Verzerrer-Effekt belegt ist. Die hochdifferenzierten, präzise ausnotierten Nachklänge erscheinen wie schwebende, sphärische Erinnerungen aus einer anderen Welt, wenn sie plötzlich aus dem Geräusch heraustreten. Für XAS ist weniger die Tatsache, dass Iannis Xenakis der Komposition stochastische Algorithmen zugrunde legte erwähnenswert, als die großformale Struktur des Quartetts. Teile größter Ordnung alternieren mit solchen scheinbarer Unordnung, äußerlich erkennbar in der Schreibweise der Rhythmen, wie auch der Tonhöhen. Ein regelmäßiger Sechzehntelpuls wird immer wieder aufgegriffen und durch freie Passagen und Rhythmen höherer Ordnung unterbrochen.
Eine Veranstaltung des Ausstellungszentrums Pyramide, gefördert aus Mitteln des Landeskulturfonds, der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur, dem Deutschen Musikrat sowie der Musikschule Mahrzahn-Hellersdorf.

Konzeption und Gesamtleitung des Abends: ensemble p i a n o p l u s